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Erfreuliches und Unerfreuliches zum Steiner-Jubiläum (Teil II)

Aktualisiert: 7. Apr.

Eine zweiteilige Reportage mit Blicken in die Kultur- und Medienwelt in Deutschland anlässlich des 100. Todestages von Rudolf Steiner

Rudolf Steiner, ca. 1899
Rudolf Steiner, ca. 1899

Nachtrag zum Erfreulichen


Anfang dieser Woche fand sich im Internet noch die erfreuliche Würdigung der medizinischen Leistungen Rudolf Steiners in einem Apotheken-Rundbrief. Hier schreibt der Medizin-Journalist  Engin Gründer:[1]

Am 30. März jährte sich der Todestag von Dr. phil. Rudolf Steiner zum hundertsten Mal. Doch obwohl sein physisches Wirken bereits 1925 endete, bleibt sein geistiges Erbe in zahlreichen Lebensbereichen bis heute präsent. Insbesondere die anthroposophische Medizin, die Steiner gemeinsam mit Ita Wegman begründete, prägt nach wie vor Teile der ärztlichen und pharmazeutischen Praxis. Ihr Ziel: Die Behandlung des Menschen als Einheit von Körper, Seele und Geist. In Zeiten zunehmender Spezialisierung und Technisierung in der Medizin erfährt dieser ganzheitliche Ansatz neue Aufmerksamkeit – etwa in integrativen Kliniken, durch anthroposophische Arzneimittel oder in der Nachfrage nach komplementärmedizinischen Behandlungen in Apotheken. … Was auf den ersten Blick wie eine lose Abfolge aktueller Entwicklungen wirkt – vom Andenken an Rudolf Steiner bis zur digitalen Identitätskontrolle bei dm – entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Spiegel eines Systems im Wandel. Die Apotheke steht dabei im Zentrum einer gesundheitspolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchphase, in der sich Tradition, Verantwortung und Zukunftsvisionen zu einem komplexen Geflecht verweben. Der Rückblick auf Rudolf Steiner erinnert an eine Zeit, in der die Medizin als geistige wie praktische Kunst gedacht wurde. Heute, hundert Jahre später, ringt das Gesundheitswesen darum, in einer durchökonomisierten und digitalisierten Welt nicht den Menschen aus dem Blick zu verlieren. Die anthroposophische Medizin ist dabei nicht nur ein ideengeschichtliches Relikt, sondern Ausdruck eines bleibenden Bedürfnisses: nach ganzheitlicher Heilkunst, die Körper, Seele und Geist umfasst – ein Anspruch, der gerade in den Apotheken wieder an Bedeutung gewinnt.

Ebenfalls erfreulich die Würdigung Rudolf Steiners in der April-Ausgabe des „Philosophie-Magazins“, wo Wolfgang Müller selbst ausführlich zu Wort kommt. Wir zitieren hier den Anfang dieses Beitrages, der in der gedruckten Ausgabe vollständig nachgelesen werden kann:[2]

Rudolf Steiner war promovierter Philosoph – und wird dennoch an den Universitäten ignoriert. Woher kommt das? Notizen zu Steiners 100. Todestag am 30. März. Es sah aus wie der Beginn einer erstaunlichen intellektuellen Laufbahn: Schon mit 21 wurde Rudolf Steiner Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften; mit Mitte dreißig lag bereits eine beachtliche Reihe an Publikationen vor, darunter sein frühes Hauptwerk „Die Philosophie der Freiheit“ und ein Buch über Nietzsche (er hatte den umnachteten Denker noch 1896 in dessen Kammer in Naumburg gesehen). Dann aber – als kristallisierten sich seine Gedanken auf einmal ganz anders aus – seit 1902 Werke mit einem anderen Duktus. Erst jetzt tauchen Begriffe wie Karma auf, und sein wohl populärster Buchtitel fragt: „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ Steiner war ein spiritueller Autor geworden. – Und schließlich, im Grunde erst in seinen letzten Jahren, wurde er eine Art Aktivist und Kulturreformer mit enormer Ausstrahlung, wenn man etwa an seine pädagogischen Impulse denkt (1919 die erste Waldorfschule) oder an seine Anstöße für eine ökologische „biodynamische“ Landwirtschaft.“

Last but not least ist ein viertelstündiges Video zu Rudolf Steiner von Börries Hornemann auf YouTube zu sehen[3], das in erfrischender Weise Aufschluss über sein Lebenswerk gibt, und das auch auf dem Schlossplatz-Festival durchgehend in einem eigenen Zelt zu sehen war.


Nun aber zum Unerfreulichen


Fangen wir mit den sogenannten „Leitmedien“ an: DER SPIEGEL und DIE ZEIT hatten es offensichtlich gar nicht erst nicht nötig, Rudolf Steiner und sein Werk zu würdigen oder auch nur zu erwähnen. Jedenfalls herrschte hier tiefes Schweigen im Blätterwald! Auch in der SÜDDEUTSCHEN hat man sich ausgeschwiegen und fand sich lediglich zu einer Besprechung der ARTE-Doku bereit.[4]


Sehr viel deutlicher dagegen die NZZ, in der, wie leider nicht anders zu erwarten, Helmut Zander erneut seine Rundumkeule schwingen durfte.[5] Hier eine Kostprobe:

Nach dem Tod dieses charismatischen Gründers war zu erwarten, dass sich die Anthroposophie in die Irrelevanz verabschieden und das Schicksal Hunderteresoterischer Gruppen teilen würde, die im Okkultismusfieber um 1900 kurz aufgeglüht waren. Aber das geschah nicht, obwohl noch am Tag von Steiners Begräbnis der Rosenkrieg zwischen Marie von Sivers und Ita Wegman begann, der die Anthroposophische Gesellschaft spaltete. Ein Grund dafür, dass die Anthroposophie bis heute lebendig blieb, ist ihre so komplexe Struktur aus Esoterik, Philosophie und Lebenspraxis. Sie macht sie anschlussfähig für immer neue Kontexte. Zudem war sie von Beginn an durch Institutionen gefestigt. Doch der Weg war steinig. Ein Grund liegt in Steiners Weltanschauung: Sowohl seine esoterischen als auch seine philosophischen Vorstellungen sind sperrig und geben oft Antworten auf Fragen, die sich heute niemand mehr stellt. Diese Krise spiegelt sich auch in der Mitgliederzahl der Anthroposophischen Gesellschaft, die Steiners weltanschauliches Erbe hütet: Sie dürfte sich in den deutschsprachigen Ländern in den letzten dreißig Jahren auf unter 15 000 Mitglieder fast halbiert haben. Auch die praktischen Anwendungen überlebten über Jahrzehnte eher schlecht als recht. Um dies an der Landwirtschaft zu illustrieren: Angesichts der unbestreitbaren Erfolge eines hochtechnisierten Ackerbaus schien die Idee, auf Kunstdünger zu verzichten und Kuhhörner mit Mist zu vergraben, um kosmische Energie zu sammeln, verwegen und von gestern.“

Fast könnte man den Eindruck gewinnen, Zander, als ein Vertreter der katholische Kirche, blickte hier, wie auch in zahlreichen anderen seiner Beiträge, voll heimlichen Neides und mit Missgunst auf die Erfolge der Anthroposophie, 100 Jahre nach Steiners Tod hin, um diese dann entsprechend abfällig und mit diffamierender Kritik und Häme zu überziehen.[6]


Die NZZ hatte in ihrem farbigen Wochenmagazin allerdings schon Anfang März eine sehr viel positivere und nicht von Zander‘scher Häme geprägte Reportage von Martin Helg gebracht:[7]

Während mich Wolfgang Held durch die Hallen des Goetheanums führt, diesen Prachtbau, der zugleich radikal modern und ein wenig aus der Zeit gefallen wirkt, verfestigt sich der Eindruck: Hier findet jeder, was er sucht. Der Manager das Management, die Studentin der Geisteswissenschaft ihre Eurythmiekurse, der Flaneur das Flanieren und die Suchenden ihre großen Fragen. Auch nach zwei Tagen, nach Treffen mit den Hütern der anthroposophischen Praxisfelder, nach Büchern, Cafeteria-Gesprächen und den Betriebsgeräuschen einer spirituellen Parallelwelt gibt es keine letzte Wahrheit – nur ein Versprechen, das jeder auslegen kann, wie es ihm passt. Eine Stärke? Ein Versäumnis? Vielleicht das Geheimnis des langen Überlebens dieser Lehre: Ihr Zentrum ist ein offener Raum.

Solche Offenheit ließ sich bei der STUTTGARTER ZEITUNG leider nicht beobachten. In keiner anderen Tageszeitung in Deutschland erschien zum Jubiläum so viel Negatives und Hämisches wie in diesem Blatt. Die zum Jubiläum erschienenen Beiträge zeichneten sich jedoch durchgehend durch eine laienhaft-subjektiv-emotionale Darstellung aus.[8] Hier eine kleine Kostprobe aus den unter Bezahlschranke stehenden Artikeln:

Er war ein geschäftstüchtiges Marketinggenie und – wenn man so will - der erste Influencer. Er hat eine Marke erfunden, die bis heute über Stuttgart hinaus einflussreich und gleichermaßen umstritten ist. Sein Geheimrezept: Er mischt eine Art sektiererische Religiosität mit Lifestyle-Aspekten für die gut verdienende Elite. … Das an Steiner interessierte Publikum, das man übrigens leicht an Wollwalk-Kleidung und Strickaccessoires ausmachen kann, lauscht gebannt und lässt sich alles erklären. Biobrot mit Demeter-Siegel, singende Kinder, wirbelndes Wasser - der Steinersche Kosmos wirkt teils kurios: Während in einem Zelt über die Zukunft der Demokratie philosophiert wird, grillt jemand nebenan Demeter-Würste. Zwei Zelte weiter kann man seinen Namen tanzen.

Nicht anders der benachbarte SWR, der mehrere Radio-Features[9] und eine TV-Serie zum 100. Todestag veröffentlicht hat. Vor allem bei der TV-Serie ist erstaunlich, dass sich hier in Gestalt von Frank Seibert ein der Anthroposophie skeptisch gegenüber stehender Laie stundenlang über seine Probleme mit Rudolf Steiner, die Waldorfschulen, die anthroposophische Medizin und die biologisch-dynamische Landwirtschaft im Stil eines Skeptikers wie Oliver Rautenberg auslassen darf, und das alles mit den öffentlichen Geldern der GEZ finanziert![10] Fazit:

Steiners Esoterik muss ich wohl oder übel mitkaufen. … und hinter allem eine Weltanschauung, die ich weder verstehe, noch teile.“

Die Presserundschau führt jedoch aufs Ganze der negativen Kritiken gesehen am Ende nur noch zur Wiederholung ein und desselben Refrains:

Die Produkte der Steiner’schen Lehre sind gut und zeitgemäß, die dahinter stehende Weltanschauung und ihr Gründer jedoch fragwürdig, esoterisch verquast und wissenschaftlich nicht belegbar.“[11]

Fazit


Als Fazit möchte man den Kritikern und Gegnern gegenüber sagen: Rudolf Steiner hat vieles Praktisches und auch heute und in Zukunft Wirksames auf den Gebieten der Pädagogik, der Medizin und der Landwirtschaft entwickelt. Alles dieses beruht jedoch einzig und allein auf der von ihm inaugurierten Geisteswissenschaft, eine auf das geistige Wesen des Menschen, nämlich auf sein Ich sich stützende Wissenschaft des Geistes. Dazu abschließend ein erhellendes Zitat:

Nun folgen Sie mir, ich möchte sagen, für einen kurzen Augenblick in die eisigen, aber nicht minder wichtigen Gedankenregionen, aus denen Fichte das Wesen des Selbstbewusstseins geholt hat. … Ich möchte das sagen, was er seinerzeit vor seine Jenenser Studenten hingezaubert hat: Eines gibt es für jeden, worin ihm sich das «Ding an sich» ankündigt, worin er sich zum Ausdruck bringt, das ist das eigene Innere. Blicke da hinein und du wirst etwas entdecken, was du zunächst sonst nirgends entdecken kannst. … Er sagt: Wenn die Menschen wirklich zur Selbsterkenntnis kommen könnten, so würden sie das Bedeutsamste in sich finden. Aber es gibt wenige, die dazu kommen, denn sie halten sich lieber für ein Stück Lava auf dem Monde als für ein selbstbewusstes Wesen. – Was ist für unsere Zeit das Selbstbewusstsein? Der eine stellt es dar als ein Konglomerat von Gehirnatomen. Aber darauf ausgehen, sich selbst zu erkennen, das tut er nicht. Es macht nicht viel Unterschied, ob man sagt, Konglomerat von Gehirnatomen oder Molekülen oder ein Stück Lava auf dem Monde. Hier macht Fichte klar darauf aufmerksam, dass jene Erkenntnis des Inneren, welche bloß beobachten will, wie es ist, nicht die richtige Erkenntnis des Inneren ist. Denn das Sein des Menschen in seinem Inneren unterscheidet sich von jeglichem andern Sein. Wodurch unterscheidet es sich? Es unterscheidet sich dadurch, dass zum Sein des Menschen Entschluss gehört, Tat gehört. … Fichte nennt Selbsterkenntnis nicht ein Brüten in sich hinein, nicht ein Sich-Anschauen, nein, sie ist für Fichte Tat, Tathandlung. Das ist ein Wort, das einen von der falschen Selbsterkenntnis hinführt zur wahren Selbstentwickelung. Der Mensch kann nicht einfach in sich hineinschauen, um zu erkennen, was er ist. Er hat sich das selbst zu geben, was er werden soll.[12]

Abschließend möchten wir Sie, liebe Leserinnen und Leser danach fragen, wie Sie selbst das Steiner-Jubiläum und sein Echo in der Öffentlichkeit erlebt haben. Schreiben Sie uns Ihre persönlichen Eindrücke in das Kommentarfeld. Wir freuen uns auf Ihre Rückmeldungen!

Herzlichen Dank!


___________________

[6] Siehe dazu auch den Beitrag von Christoph Hueck in unserem Blog: https://www.akanthos-akademie.de/post/rassismus-und-menschheitsentwicklung

 
 
 

4 comentários


Convidado:
09 de abr.

Ich denke mal (und das ist eine Unterstellung!), daß sich die meisten Redakteure, die sich ein Urteil über Rudolf Steiners Wirken bilden und es dann veröffentlichen, nicht wirklich in die Inhalte anthroposophischer Lehre vertieft haben. Ist ja auch hochgradig schwierig und anspruchsvoll. Aber das wäre die Grundvoraussetzung für jedwede Einschätzung oder Kritik, im Positiven wie im Negativen. Man ließe sich auf etwas ein, was nicht in gewohnte, 'wisseschaftlich' akzeptierte Denkmuster fällt. Ja, dazu gehört Neugierde, Mut und das Bedürfnis nach Antworten, die unsere eingeschränkte Sichtweise auf den Menschen elementar erweitern könnten. Das überschreitet wahrscheinlich das Verständnis eines Redakteurs für sein Aufgabengebiet. Das ist verständlich, aber auch irgendwie schade. Die Gelegenheit, etwas von Anthroposophie zu begreifen, hat man jeden Tag, aber…

Curtir

Convidado:
07 de abr.

Ich konnte leider nur zwei Stunden auf dem Jubiläumsfest verbringen, aber die Eindrücke aus dieser kurzen Zeit sind für mich so kostbar: die für große und kleine Zuschauer gleichermaßen

faszinierende Eurythmievorführung, der

wunderbare Gesang vom Chor der Christengemeinschaft, die perfekten Akrobaten und lustigen Clowns des Zirkus Kalibastra.

Es war eine so schöne Stimmung und Atmosphäre die mich den ganzen Tag begleitet hat.Herzlichen Dank!


Curtir

Convidado:
07 de abr.

Vielen Dank für die gute Aufarbeitung, die viel Kraft spart, selber zu recherchieren!


Curtir

kai
06 de abr.

Was wirkt in der 'Nichtung'? Ist Nicht-Anerkennen nicht durchaus von gegenseitiger Natur? Ablehnung kommt, wenn sie annimmt, sich auf (eigenes) Wissen stützen zu können. Fehlt nicht eher Lust und Liebe? Die Lust auf Freiheit. Liebe, die sich selbst überwindet. Und da ist doch auch die Ahnung einer Gefahr, einer Überforderung, es könnte einem den sicheren Boden unter den Füßen wegziehen. Und ist der nicht auch ohnedies längst schon weg? Das Tabu hält, solange es reproduziert wird.

Curtir
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